100 Tage Schwarz-Gelb: Ein Zwischenruf von Klaus-Henning Kluge

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Seit etwa 100 Tagen ist die neue Regierung jetzt im Amt. Traditionell wird dieser Zeitpunkt zum Anlass genommen die Arbeit einer neuen Regierung zu beurteilen. Bei der neuen schwarz-gelben Regierung gibt es nach drei Monaten schon einiges zu sehen. Und wenig davon sieht gut aus. Die Kanzlerin ist kaum wahrnehmbar, die FDP und die CSU führen ein Artilleriegefecht über die deutschen Zeitungen und große Ziele sind nicht zu erkennen.

Angefangen hat alles im Oktober mit den kürzesten Koalitionsverhandlungen der Geschichte. Sie waren so kurz, dass selbst die Beteiligten damit ihre Probleme gehabt zu haben scheinen. Schon kurz nach Regierungsantritt musste der ehemalige Verteidigungsminister seinen neuen Stuhl im Arbeits- und Sozialministerium räumen, weil er zuvor in der Kunduz-Affäre versagt hatte. Der neue Verteidigungsminister versuchte mit merkwürdigen Erklärungen seinen Geisteswandel in Bezug auf die Rechtmäßigkeit des Bombenabwurfs zu rechtfertigen. Von der Kanzlerin war nichts zu hören.

Schon wenige Tage nach Regierungsantritt beschloss die Regierung auch das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Allein diese Bezeichnung drückt den Glauben aus, dass man mit Steuersenkungen per Gesetz das Wachstum beschleunigen könnte. Dabei stellen sich zwei, wenn nicht drei Probleme. Zum einen ist Wachstum nicht gleich Wachstum. Ein Prozent „chinesisches“ Wachstum ist nur ein minimaler Bruchteil eines „deutschen“ Prozents. Deutschland ist ein Land voller Wohlstand und einem sehr hohen Bruttosozialprodukt.

Jeder Mensch kann, wenn er das Geld hat, kaufen was immer sein Herz begehrt. Für ein großes Wachstum wie es sich die FDP vorstellt, müsste in Deutschland eine riesengroße Nachfrage entstehen. Für diese Nachfrage gibt es weder das Geld bei den Leuten, noch ein Produkt oder eine Produktpalette, die diese Nachfrage hervorrufen könnte. Ungeachtet der Tatsache, dass sich dieser Staat keine Einnahmeverluste leisten kann.

Zweitens ist die Steuersenkungsideologie fehlgeleitet. In Deutschland zahlen die Menschen am unteren Rand keine Einkommenssteuern, die am oberen Rand den größten Teil. Genau hier möchte die FDP Steuern senken. Wie sie das bezahlen möchte, sagt sie an keiner Stelle. Welche staatlichen Dienstleistungen abgeschafft oder gestrichen werden sollen, sagt sie auch an keiner Stelle. Hinweise findet man in ihren 400 Sparvorschlägen und die sind mitunter asozial.

Dabei sind beim näheren Hinsehen nicht die Steuern das Problem, sondern die Lohnnebenkosten, die von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bezahlt werden. Hier den Arbeitgeberanteil einzufrieren, ist auch nicht gerade rational.

Aber die FPD regiert nicht rational. In ihrer Ideologie-Verhaftung ist sie wahrscheinlich ähnlich schlimm wie die Linke. 11 Jahre saß die FDP in der Opposition. Sie hatte viel Zeit die Macht zu vermissen, große Pläne zu schmieden und sich von der Realität zu verabschieden. In diesen Tagen rächt sich diese Tatsache und die FDP betreibt Klientelpolitik für Hoteliers und Steuerberater, statt ernsthafte Vorschläge für eine Steuerreform zu machen. Darüber schwebt stets das Mantra von den Steuersenkungen, die unbedingt kommen müssen. Die Kanzlerin schweigt dazu oder unterstreicht die Ziele. Allenfalls schickt sie ihren Finanzminister nach vorne, der dann erklärt, dass alles im Koalitionsvertrag unter Finanzierungsvorbehalt stehe und dass man ja ohnehin die Steuerschätzung im Mai abwarten müsse. Dabei ist heute schon klar, dass das Loch riesig ist. Offenbar gibt es einen 50-prozentigen Einbruch bei der Einkommenssteuer. Nach dem Mai wird es weder Steuersenkungen noch sonst irgendwelche Wohltaten geben können.

Die Kanzlerin aber schwebt über dem täglichen Koalitionskrach und profiliert sich dabei auf internationaler Ebene. Hier möchte ihr auch keiner bestreiten, dass sie das gut macht. Aber das reicht nicht. Scheinbar glaubt Merkel sie sei immer noch in der Großen Koalition und sie könnte weiter moderieren. In der Großen Koalition gab es aber zwei gleich große Partner, die beide voneinander wussten, dass sie unterschiedlicher Meinung sind und sich gegenseitig ausbalancierten. Sie wollten nicht zusammenarbeiten, konnten es aber ganz gut. Keine der beiden Parteien konnte daraus einen Vorteil ziehen. Im Gegenteil, die SPD fuhr ihr historisch schlechtestes Ergebnis ein. Merkel war die einzige, die durch ihre unverbindliche, sich alles Gute aneignende Haltung öffentlich gewinnen konnte. Damals durfte sie nicht führen. Ihre Moderation war damals richtig. Genauso führte sie ihren Wahlkampf, völlig inhaltsleer und alle umarmend.

Heute ist die Situation anders und vielleicht hat es Merkel noch nicht gemerkt. Sie regiert jetzt in einer Koalition, die jahrelang als Wunschkoalition bezeichnet wurde. Aber von diesen Wünschen scheint nicht viel übrig zu sein. Stattdessen sind da eine geschwächte Union und eine erstarkte FDP. Die zwei kleineren Parteien führen einen erbitterten Streit um die Richtung der Koalition, die CDU unter Merkel schaut größtenteils nur zu. Der Streit, ob man Steuern senken kann oder nicht, ist essenzieller Natur. Normalerweise würde er über Wohl und Wehe einer Koalition entscheiden.

FDP und Union haben bisher wenig Übereinstimmungen gezeigt und eigentlich bekommt man das Gefühl, es seien noch weniger als in der Großen Koalition. Merkel glaubt sie könne dem Streit zusehen ohne sich selbst dazu zu äußern. Mit ihrem Schweigen befördert sie aber die Fliehkräfte in der Koalition. Es obliegt ihr die Ziele der Politik zu definieren und vorzugeben. Stattdessen lässt sie der Kakophonie freien Lauf.

War ihre abwartende Haltung zuvor oft ein Segen, ist sie nun eine Gefahr. Die Bürger, und auch die, die sie gewählt haben, wissen nicht wohin die Reise gehen soll. Immer mehr zeigt sich an diesem Beispiel, dass die mathematischen Mehrheiten nicht unbedingt die inhaltlichen sind. Die FDP war vier Jahre länger in der Opposition, während die Union schon in der Wirklichkeit ankommen konnte. 2005 wäre Schwarz-Gelb noch ein Projekt mit klaren Zielen gewesen, heute ist es ein Anachronismus. Das empfinden auch die Akteure so, deshalb gibt es keine gemeinsamen Ziele außer dem völlig unsinnigen Wachstumsmantra. Alles andere bleibt unklar – wahrscheinlich nicht nur dem Wähler, sondern auch den Politikern. „Unter Finanzierungsvorbehalt“ könnte das Motto dieser Koalition sein.

Wie krass ist da doch der Kontrast zu Gerhard Schröder, der mit seiner Agenda 2010 ein zwar umstrittenes, aber unter dem Strich richtiges und erfolgreiches Projekt durchgesetzt hat. Er hat all die Macht, die er hatte, in die Waagschale geworfen, hat dabei die SPD zunächst mundtot gemacht, ihr dann ihr Selbstverständnis geraubt und schließlich die Koalition gesprengt. Wahrscheinlich graut es Merkel davor genauso zu enden wie Schröder. Mit ihrem Programm 2005 wurde sie nur knapp Kanzlerin mit Hilfe einer verstümmelten SPD. Von ihrem neoliberalen Programm hat man nie mehr etwas gehört, alle führenden Neolibs sind abgesägt worden. Seit 2005 ist Merkel wie in Watte gepackt und verhält sich so, wie sie es selbst beschreibt: Sie wartet ab, hört sich alle Argumente an und entscheidet dann irgendwann. Dabei ist es in der Finanzkrise schon einmal so gekommen, dass nicht sie die Führung hatte, sondern die SPD Minister im Kabinett.

Als Kanzlerin in einer normalen Koalition kann sie sich das Abwarten nicht mehr leisten. Sie muss führen, weil sie sonst die Kontrolle verliert. Und je schneller und stärker die Fliehkräfte werden, desto gefährdeter ist ihre Kanzlerschaft. Alle Augen richten sich nun auf den Mai. Wenn Merkel nach Mai, nach der NRW-Wahl und der Steuerschätzung, nicht ihre Führungsrolle annimmt, sondern weiter der FDP die Themensetzung überlässt, kann es um ihre Kanzlerschaft und womöglich sogar um Schwarz-Gelb schnell bestellt sein. Sollte es so weit kommen, ergeben sich ein paar Möglichkeiten. Die größte Frage dabei wäre wie sich die CDU/CSU verhält. Bleibt sie bei der FDP oder versucht sie eine Neuauflage der Großen Koalition oder gibt es gar Neuwahlen? Noch ist es nicht so weit und es muss auch nicht so kommen, aber wenn Merkel nichts tut, wächst die Wahrscheinlichkeit täglich.

Gerhard Schröder hat etwas riskiert und ist schließlich untergegangen. Wer etwas riskiert, kann verlieren, sagt man. Merkel hat noch nichts riskiert, sie hat noch nicht die Führung übernommen, sie erfüllt ihr Amt nicht. Wer nichts riskiert, hat schon verloren. Auch das sagt man.

Klaus-Henning Kluge

 

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